Donnerstag, 31. Dezember 2009

Am schönsten Ort der Welt

Der Vollmond muss uns heute abend den Weg weisen. Wir feiern hoch in den Bergen auf einer einsamen Berghütte. Dorthin führt nur ein Fußweg, steil und anstrengend. Aber für diese besondere Einladung ist mir nichts zu hoch und nichts zu weit.

Sie wohnt hinter den Wäldern knapp unterhalb des Berggipfels. Kurz hinter unserem Haus endet die Straße, geht über in einen holprigen Wirtschaftsweg. Tief im Inneren des Waldes, dort wo der Aufstieg zum Gipfel beginnt, verengt er sich immer mehr. Irgendwann wird der Weg zum Pfad, windet sich über Stock und Stein in die Höhe. An seinem Ende steht eine Hütte. Lange war sie verlassen. Im Frühjahr machte die Nachricht die Runde, jemand wolle sie wieder bewirtschaften. Essen und Bett für Wanderer, ein Basislager für Kletterer in den extremen Steilwänden bieten.

Im Frühsommer begegnete ich ihr erstmals. Sie stand inmitten ihrer Gäste auf der Veranda der Hütte, servierte Kaffee und Kuchen, plauderte kurz hier und da, eilte in die Küche, kehrte wenig später beladen wieder zurück. Sie war schön. Schön auf eine außergewöhnliche Art. Selbst Jeans, weite Bluse und Kürchenschürze vermochten ihre Figur nicht zu verdecken. Das lange Haar im Nacken edel geknotet, das Gesicht ohne Makeup in feinen Zügen, große, tiefbraune Augen - diese Augen sehen dich an, sie lächelt sanft, das ganze Gesicht plötzlich ein einziges Strahlen, du vergißt alles und siehst nur noch hin und lächelst lieb zurück.

An jenem Tag blieben wir lange oben. Die Tagesgäste waren schon längst wieder fort. Sie räumte benutztes Geschirr, kehrte und wischte Essenreste auf, spülte, trocknete ab, bereitete Essen für den Abend vor, als alles fertig war, ging sie hinaus und hackte noch etwas Holz. Selbst dabei war jede ihrer Bewegungen wunderbar anmutig, alles weich und fließend. Längst hatte sie bemerkt, wie ich sie gebannt beobachtete. Sie ging zu dem kleinen Brunnen, wusch sich die Hände, erfrischte mit leichten Tupfern ihr Gesicht und setzte sich dann zu mir. Zusammen schauten wir hinaus in die Berge, die im Schein der untergehenden Sonne sich nach und nach in glühendes Rot verfärbten. Wir saßen einfach nur da und bestaunten gemeinsam die Natur, selbst mein Schatz sagte nicht ein einziges Wort, hielt nur still meine Hand. Schließlich rief ihre Arbeit sie wieder fort. Sie lächelte beim Aufstehen, sie lächelte wie jemand, der alles was er tun muss als Glück empfindet. Glück, weil ihm dabei etwas geschenkt wird, was er sonst niemals bekommen würde. Das, sagte sie und zeigte dabei auf die glutroten Berge, macht mich immer wieder aufs Neue glücklich.

Von da an stiegen wir regelmäßig zu ihr auf, manchmal ich auch allein. Stunden saßen wir schweigend und genossen nur die Natur um uns. Wir sahen Gemsen spielen, hörten Murmeltiere pfeifen, sahen den Steinadler kreisen, sonnten uns im warmen Sommer, verfolgten nachts gebannt das Lichterspiel des wundervollen Mondscheins. Kaum ein Wort geredet und doch so viel erzählt. In Szenen und Bildern zeigte sie mir ihre Welt, voller Arbeit und Verzicht, doch von einem Reichtum, den nur jemand besitzen kann, der ihn begreift. Sie hatte diesen Reichtum schon lange begriffen.

An einem Nachmittag im Spätsommer legte sie mir (schweigend) ein Fotoalbum auf die Bank an der Seite ihrer Hütte. Ging fort und bediente Gäste, ließ mich alleine blättern, ließ mich allein mit tausend Fragen. Ich sah sie auf Bildern lachend und feiernd, tanzend und posend, immer in Gesellschaft, inmitten unzähliger Männer die síe begehrten, sah sie auf Bildern als Model vieler Shows, stolz und anmutig wie hier oben auf dem Berg in Jeans, weiter Bluse und Küchenschürze. Ich blätterte und blätterte, bewunderte sie und wunderte mich zugleich. Sie gab mir Zeit, setzte sich an diesem Nachmittag erst spät zu mir. Schaute hinaus auf die Berge, wie immer wenn sie hier saß, drehte sich plötzlich zu mir, nahm das Album. "Der Alkohol wurde zu viel. Von den Drogen ist in den Bildern nichts zu sehen."

Ich wusste, dass ich nichts fragen durfte, ohne zu gefährden, was hier gedieh. Langsam begann ich von mir zu erzählen, hörte ihr zu, wenn sie von dem neuen Leben erzählte, wenn sie auf Bildern zeigte wie sie einmal war. Hörte ihr zu, wenn sie in tiefen Gedanken von den Gefühlen in Einsamkeit sprach, und von ihrer neu wachsenden Sehnsucht nach Familie. Selten redeten wir viel, aber stets intensiv - das änderte sich auch nie an den Tagen, in denen ich mit meinem Schatz hier oben weilte.

Im Herbst lud ich sie zu uns zu einer Feier. Sie sagte nein, kategorisch nein: "Das ist vorbei." Sah mich an, lange an. Sie las in meinen Augen, so wie ich es sonst auch immer mache, und sie wusste, wie mir daran gelegen war, dass sie kommt. Plötzlich lächelte sie. Zur Feier werde sie nicht kommen, sagte sie, aber sehr gerne würde sie für uns alle kochen.

Sie war schon früh morgens da. Gewohnt ohne viele Worte bereitete sie das Essen vor, besorgte schnell, was vergessen war, am späten Nachmittag ließ sie niemanden mehr zu sich in unsere Küche. Alles machte sie alleine, nur beim Servieren für die Gäste durften wir helfen. Sie hielt sich versteckt zwischen dampfenden und duftenden Töpfen, nur hier und da ein "Hallo" für neugierige Gäste. Als alles getan, wollte sie gehen, einfach hinaus und durch die Nacht hoch zur Hütte. Mein Schatz sah sie gerade noch rechtzeitig, eilte ihr nach, hielt sie auf. Gäste kamen hinzu, dankten für das, was sie uns vorzüglich zubereitet hatte, baten sie zu bleiben - einmal, zweimal, immer wieder. Zum ersten und einzigen Mal sah ich sie richtig verlegen. Schüchtern lächelte sie, freute sich über die vielen gereichten Hände, aber insgeheim tobte die Angst vor der Wiederkehr von Vergangenem. Sie zuckte leicht mit den Schultern, schüttelte den Kopf, bemerkte leise, sichtlich verstört, sie habe doch nichts zum Anziehen für diesen Abend.

Da hatte ich schon längst ihre Hand, zog sie mit mir fort, die Treppen hoch, schloß fest die Tür hinter uns. Irgendwas davon werde sicher passen, versicherte ich beim Öffnen meines Kleiderschranks. "Bitte, bitte suche dir was aus, was du magst." Sie kämpfte mit sich. Sah zu mir, sah zum Schrank, atmete tief. Sah die Tränen in ihren Augen steigen, sagte noch einmal, bitte bediene dich, und ließ sie allein.

Es dauerte lange, sehr lange. Sie stand in der Tür, plötzlich war sie da. Von einem Moment zum anderen war alles verändert. Alle sahen hin zu ihr, die meisten bewundernd, viele staunend. Sie war schön, unglaublich schön, mein Kleid habe ich nie schöner gesehen und ich wusste gleich in diesem Augenblick, ich werde es nie wieder tragen. Mein Schatz verneigte sich leicht, nahm sie bei der Hand und tanzte mit ihr durch den Raum. Rhythmisches Klatschen, die beiden inmitten unseres Kreises, federleicht schwebend zur Musik. Sie lächelte, lachte, strahlte. Sie war glücklich, anders, ganz anders als dort oben auf dem Berg.

Erst mit dem Morgengrauen ging sie heim. Draussen vor der Tür drückte sie mich, hielt mich dann lange bei den Händen, stupste schließlich ganz sanft mit dem Finger die Spitze meiner Nase. So macht es mein Schatz, wenn er mich liebend liebkost, so macht es meine beste Freundin, wenn sie mich liebkost - sie wusste das. Wir lachten.

Sie ging, drehte sich nach einigen Metern noch einmal um. Winkte und rief, an Silvester müssten wir unbedingt zu ihr kommen, wir alle, mit denen sie in der Nacht gefeiert. "Bitte" - und dazu klatschte sie bittend mit ihren Händen.

Heute Nacht ist Jahreswechsel.
Heute Nacht ist Vollmond.
Und wir feiern am schönsten Ort der Welt.


Ich wünsche Dir ein wundervolles neues Jahr.

Liebe Grüße von
Laureen
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