Sonntag, 17. Januar 2010

Gehe nie mehr fort

Komme noch einmal zurück. Ein letztes Mal. Nur die wichtigsten Sachen holen. Das Haus steht verlassen, der Schnee seit Tagen nicht geräumt, der Müll quillt noch aus den Tonnen, Briefe und Zeitungen mühsam in den vollen Briefkasten gequetscht. Will nichts denken, will nichts fühlen, erst recht nichts fragen, nur hinein in deinem Haus und schnell holen, was ich brauche.

Ein letztes Mal diese Tür öffnen, werde nachher die Schlüssel in den Briefkasten werfen, dann ist alles vorbei, für immer Schluß. Noch keinen Schritt in der Wohnung, schon toben in den Erinnerungen die streitvollen letzten Stunden mit dir. Alles liegt noch ungeräumt, im Eingang Schuhe durcheinander, eine deiner Jacken auf dem Boden. Schnell, schnell, nur schnell hinein und wieder fort.

Eine Stimme ruft meinen Namen, höre ein "Hallo", die Bitte, doch kurz zu warten. Drehe mich überrascht, sehe draussen eine alte Frau durch den Schnee zum Haus stapfen. Sie winkt freundlich, steht vor mir, strahlt mich an, drückt meine Hand. Ach, sagt sie, so schön, dass ich wieder da sei.

Ich habe die alte Dame oft gesehen. Fast jeden Tag, wenn ich am späten Nachmittag daheim war. Nie haben wir ein Wort miteinander gesprochen, nur kurz gegrüßt bei den Begegnungen vor dem Haus. Sie kommt unten aus dem Dorf, geht stets dieser langen, steilen Weg hier hoch bis zum Wald und noch ein kurzes Stück hinein. Dort hinten steht eine kleine Gottesgrotte, tief gehauen in einem mächtigen Fels. Immer liegen darin frische Blumen, immer brennt darin ein kleines Kerzenlicht, manchmal brennen auch zwei. Im Frühjahr bei stärkstem Regen, im Sommer bei größter Hitze, im Herbst bei heftigstem Sturm, im Winter bei tiefstem Schnee, die alte Dame geht immer diesen Weg, bringt frische Blumen, eine neue Kerze und entzündet das Licht.

Im vergangenen Jahr hatte ich sie lange nicht gesehen. Keine Blumen in der Grotte, kein Licht erhellte den nächtlichen Wald. Eines Nachmittags im späten Herbst war sie wieder da, ging ihren täglichen Weg, grüßte mich wie immer, traute mich nicht zu fragen, was geschehen, grüßte nur wie gewohnt zurück.

Jetzt steht sie vor mir, hält meine Hand, schaut mich aus hellen, klaren Augen glückseelig an. Sie habe mich, so versichert sie, in den vergangenen Tagen sehr vermißt. Und ihn, "ihren lieben Mann", doch auch. Er sei einfach weg, genau wie ich, niemanden von uns habe sie mehr gesehen. So wie es hier ausssieht, meint sie und zeigt auf den alten Müll, den Briefkasten, fährt niemand in den Urlaub. Noch immer hält sie meine Hand, drückt feste und sagt: "Sie gehören doch hierher, sie beide gehören zusammen." Zwinkert mich an: "Ganz sicher."

Sie liest in meinen Augen, liest in meinem Gesicht, muss jetzt nichts sagen, sie ahnt, sie weiß, ich gehe fort, jetzt gleich und endgültig. Langsam weicht das Strahlen in ihrem Gesicht, die tiefen Furchen wirken ernst. Aber nur für einen kurzen Moment zeigt sie ihre Traurigkeit, nimmt wieder meine Hand und bittet, ich möge zum Abschied sie einmal begleiten hinaus auf dem letzten Stück zu der kleinen Grotte.

Sie geht langsam, doch mit festem Schritt geradewegs das gleiche Tempo. Seit diesem Sommer, meint sie, wollen die Beine nicht mehr so recht. Ich frage nichts, sage nur, habe sie damals lange nicht gesehen. Sie beginnt zu berichten, so, als hätten wir wie Freundinnen so viel nachzuholen. Erzählt von ihrem Mann, weit in der Rente, der im Sommer einfach umfiel, plötzlich dort mit einem Schlaganfall lag. Von Notärzten, vom Krankenhaus, von der Angst um ihn, von den vielen Fahrten aus ihrem Dorf hinaus zum Krankenhaus in der weiten Stadt. In jenen Tagen musste sie ihren täglichen Weg ändern. Nicht mehr hinauf zu der kleinen Grotte, in der kein Kerzenlicht mehr leuchtete, sie fuhr dafür hinaus zu ihrem Mann, dem sie verbunden seit über fünfzig Jahren, den sie noch immer liebt, den sie noch immer so unglaublich schätzt, um den sie nun bangte, zitterte, den sie nun versorgte, um den sie betete. So vergingen Wochen und die Angst wurde zur Gewißheit - er würde nie wieder gehen können.

Sie bereitete sich daheim auf das Leben mit dem Rollstuhl vor. Kaum war er wieder daheim, brach sie unter der Last der vergangenen Wochen zusammen. Wieder Notärzte, diesmal kam sie ins Krankenhaus. Sie erholte sich, zwar nur langsam, aber sie kam wieder zurück nach Hause. Dort wo ihr Mann sehnsüchtig auf sie wartete, nicht nur, weil er im Rollstuhl ihre Hilfe brauchte, auch weil er sie liebte, sie sich noch immer liebten, sie zusammen gehören. Aber seit dem Zusammenbruch wollen ihre Beine nicht mehr so recht.

Auf den letzten Metern führen nur tiefe Spuren durch den Schnee zu der kleinen Grotte. Sie legt frische Blumen hinein, entzündet das kleine Kerzenlicht. Sie steht davor, die Hände gefaltet, sagt kein einziges Wort. Minuten vergehen, will nichts fragen, will nicht stören. Alles so herrlich ruhig an diesem einsamen Ort. Einzig das Kerzenlicht flackert leicht im Wind. Ich schaue auf das Licht, verfolge das leichte Flackern, vergesse ganz langsam alles um mich herum, gewinne eine seltsame Ruhe, bin weit weg, sehe Bilder, schöne Bilder von uns, lachend, spielend, liebend, Pläne schmiedend. Spüre fast deine Hände im Gesicht, mir ist, als blitzen mich deine wunderbaren Augen an, diese Augen, die ich so liebe, die mich noch nie belügten.

Eine Hand greift wieder zu meiner, umschließt sie fest. Die alte Dame sieht mich an, ganz feste und ernst. "Ich kann hier meine Last zurücklassen", sagt sie mit leiser Stimme. "Dafür komme ich jeden Tag, dafür danke ich jeden Tag mit Blumen und Licht." Ich muss sie umarmen, drücke sie, halte sie, weine, weine endlos in ihren Armen.

Schweigend gehen wir zurück. Auch ohne Worte reden wir genug, sie sieht immer wieder zu mir, weiß, was in mir geschieht. Nein, einen Kaffee würde sie zwar gerne trinken, doch sie müsse wieder heim. Ihr Mann wartet im Rollstuhl. Zum Abschied eine Umarmung wie unter Freundinnen und die kecke Frage, ob sie beim Aufräumen helfen solle. Wir lachen, drücke ihr einen Kuss und winke, bis sie unten in der Kehre den Blicken entschwindet.

Öffne die Tür zu unserem Haus, erschrecke, erstarre. Höre meinen Namen, immer wieder meinen Namen, Hände streicheln mein Gesicht, Küsse überall, sehe deine Augen, diese blitzenden, lachenden Augen, die ich so liebe, die mich noch nie belügten, die immerfort sagen, bitte gehe nie mehr fort.

Liebe Grüße von
Laureen
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